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Sie ist gerade fünf geworden. Mit ihrer Mutter an der Hand läuft sie fröhlich am Strand entlang. Große Vögel sind am Himmel zu sehen. „Mami, schau mal der da …“. Gemeint ist eine besonders schöne, aber auch irgendwo frech aussehende Seemöve. Die Mutter lächelt, doch die Augen des Vogels machen ihr Angst. Ganz weit am Horizont fährt ein Dampfer, den wohl nur der Vater sieht.

 
Sie ist neun. Es ist weit nach zehn Uhr aber sie kann nicht schlafen. Im Nachbarzimmer weint der mittlerweile zweijährige Bruder. Sie geht zu ihm, und tröstet sich und ihn. Er vermisst wohl seine Mutter, genauso wie sie selber. Die ist in irgendeiner Klinik, kann nichts dafür, sagt der Vater. „Wir müssen jetzt alle zusammenhalten. Du bist doch jetzt auch schon ein großes Mädchen“. Natürlich, denkt sie sich, ich schaffe das, und geht lächelnd wieder zurück in ihr Zimmer.

 
Gegen halb elf kommt der Vater in ihr Zimmer. „Ich bin ja so stolz auf Dich, wie Du das alles schaffst. Bist ja schon richtig erwachsen geworden.“ Sie lächelt, denn sie ist stark. „Mutter braucht unser aller Kraft, und ich weiß doch, dass ich mich auf Dich verlassen kann“. Sie fühlt einen kleinen Kloß im Hals, doch den schluckt sie schnell wieder runter, immerhin wird sie ja noch gebraucht.

 
„Darf ich Hero Turtles gucken?“. Der kleine Bruder steckt den Kopf in die Küche. Sie lächelt strahlend. „Ja klar, und nachher gehen wir noch zum Spielplatz, okay?“ „Au ja, da freue ich mich schon“, ruft der Vierjährige und läuft zum Fernseher in ihrem Zimmer. Sie will nur noch eben Staub putzen und eine Maschine reinschmeißen. Sie ist stolz auf sich. Genauso wie der Vater. „Toll, wie Du Mama entlastest, Du weißt ja, sie ist im Moment nicht so stark, da müssen wir alle zusammenhalten“. Er lächelt und so tut sie es ihm nach.

 
Abends kommt wieder einmal der Vater in ihr Zimmer. Er riecht seltsam und sie mag es irgendwie nicht, wie er ihre Wange berührt. Doch sie schluckt ihre Bedenken hinunter. Immerhin ist sie ja ein großes Mädchen. Letztens hat der Vater sie dabei erwischt, wie sie geweint hat. Zuerst schien er erschrocken, doch dann hatte er sich schnell wieder gefangen. „Nanana, wenn das die Mama sieht. Du willst doch bestimmt nicht, dass sie wieder traurig ist, oder? Bist doch meine Große.“ Nein, auf keinen Fall will sie schuld daran sein, dass die Mutter wieder in die Klinik kommt. Da ignoriert sie auch die Hand auf ihrem Schenkel.

 
Vor einer Woche ist sie dreizehn geworden. Sie freut sich auf ihre Serien, macht schnell noch ihre Hausaufgaben und legt sich dann auf ihre Couch. Da schnellt der Vater ins Zimmer. Er ist wütend. „Was liegst Du hier so faul herum, während Deine Mutter den Haushalt alleine schaffen muss? Ich dachte, wir hätten das abgesprochen!“ „Aber ich hab doch schon ….“ fängt sie vorsichtig an, schluckt dann aber alles hinunter. Würde eh nichts bringen. Aber wütend ist sie dennoch. Und enttäuscht. Gleichzeitig fühlt sie, wie eine endlose Welle der Schuld sie überkommt, Mutter darf doch nicht wieder in die Klinik. So geht sie in die Küche. Die Träne blinzelt sie weg.

 
Später hört sie sich zusammen mit ihrem Bruder ein paar Hörspiele an. Das ist immer die schönste Zeit, er ist so lieb und mit seinen paar Jahren schon so verständnisvoll. Letzte Woche ist sie gefragt worden, ob er ihr Sohn sei. Da war sie erstaunt. Und unendlich stolz, dass sie schon wie eine Erwachsene aussieht. Und es stimmt, den kleinen Bruder liebt sie wie ihren eigenen Sohn. Und der beste Freund ist er gleichzeitig. Wenn sie ihn nicht hätte …

 
Abends kommt noch immer der Vater in ihr Zimmer. Er riecht bitter. Mutter ist auch nicht lange daheim. Als sie knapp vor ihrem fünfzehnten Geburtstag steht, wird Mama wieder in die Klinik gebracht. Und für die unter normalen Umständen Pubertierende steht fest, dass es wieder mal ihre Schuld ist. Sie hat wohl doch nicht alles richtig gemacht. Sie liebt ihre Mutter so sehr, warum kann sie ihr nicht die nötige Kraft geben, dass sie stabil genug ist, um dauerhaft zu Hause zu sein? Angeblich hat sie Geister gesehen, komische Geschichte. Aber muss man deswegen in die Klinik? Ihr alles geliebter Bruder ist auch schwieriger geworden, auch wenn der Zusammenhalt zwischen ihnen immer noch genauso groß ist. Doch irgendwie entgleitet ihr alles, sie muss sich zusammenreißen. Lächeln, Kreuz durchstrecken und dann klappt das schon.

 
Doch immer öfter muss sie weinen. Wenn auch heimlich. Und eigentlich versteht sie gar nicht warum, denn sie hat doch alles, oder? Sie fühlt sich so schuldig. Doch hat sie ihre Gefühle so sehr unter Kontrolle, dass sie teilweise wie durch Nebel läuft. Und immer mehr scheinen ihr die Fäden aus der Hand zu fallen. Gab es denn überhaupt jemals welche?

 
Selbst in der Schule wird sie schwächer. Wo sie doch immer eine der Besten war. Und Papa ist immer weniger stolz auf sie. Sie gibt sich Mühe, kämpft weiter, doch irgendwie scheint es vergebens. „Warum nur bin ich so schwach?“ fragt sie sich.

 
Mit siebzehn läuft sie eines Abends einfach los. Ohne zu wissen, wohin, steigt sie in irgendwelche Busse und Bahnen, um am einem beliebigen Fluss auszusteigen. Es ist Vollmond. Sie tanzt und singt im Dunkeln. Sie fühlt sich frei. Sie läuft und läuft und tanzt. An einer Brücke macht sie halt. Eine Sozialarbeiterin holt sie runter. „Sollen wir nicht einen Kaffee zusammen trinken?“. An diesem Abend weint sie viel. Und erzählt nur ein kleines bisschen. Später holt sie der Vater ab. Er nimmt sie in den Arm. „Was hast Du denen nur erzählt? Die haben mich vielleicht angeguckt!“

 
Sie ist siebenundzwanzig. Vom Aussehen her schätzen sie viele auf neunzehn. Sie lebt zusammen mit ihrem Freund in einer kleinen bescheidenen Wohnung. Ihr Bruder lebt nicht mehr. Zusammen mit ihm hat sie einiges begraben, ihren Sohn, den besten Freund und Zuhörer. Aber auch ihre Schuld, oder wenigstens einen Teil davon. Jetzt lebt sie Kindheit und Jugend, wenn die Traurigkeit auch immer bleibt …